Edin Terzic hat seine erste Vorbereitung als Cheftrainer einer Bundesligamannschaft hinter sich.
Edin Terzic hat seine erste Vorbereitung als Cheftrainer einer Bundesligamannschaft hinter sich. Da waren Euphorie und Aufbruchstimmung einerseits, aber auch spät zu integrierende Nationalspieler und die Erkrankung von Sébastien Haller. So ist Terzic‘ Plan, der in der 60. Bundesliga-Saison erfolgreich umgesetzt werden soll, zunächst ein Balanceakt: Alle Stärken auf den Platz bringen und alle Schwächen nach Möglichkeit verstecken.
Beginnen wir dieses Portrait mit der Feststellung, dass Edin Terzic binnen kurzer Zeit einen erstaunlichen Stimmungswandel herbeigeführt hat. Seine abermalige Bestellung zum Cheftrainer – diesmal für drei Jahre – wirkt bei all jenen wie ein Aufputschmittel, die in der vergangenen Saison (zu) häufig das Gefühl vermissten, in Dortmund etwas Wichtigem beigewohnt zu haben.
Halten wir kurz inne. Schließen wir für einen Moment die Augen und hören einfach nur zu, wie sich Terzic mit Valencias Trainer Gennaro Gattuso beim Test im österreichischen Altach an der Seitenlinie ein Duell der besonderen Art liefert. Wer erteilt die lautesten Anweisungen? Italiens Weltmeister von 2006, den sie in seiner Heimat den „Knurrer“ nannten, klingt dabei, als würde er seine Stimmbänder mit Ako Pads schmirgeln.
Lehnen wir uns ganz einfach nur in der beruhigenden Annahme zurück, dass der BVB und Terzic zusammenpassen wie Curry und Wurst: der Verein, der nach einer in den Cupwettbewerben unbefriedigenden Saison wieder attraktiveren Fußball spielen lassen will – und der erst 39 Jahre alte Trainer, bei dem es nicht wundern würde, wenn schwarzgelbes Blut durch seine Adern flösse. Schon einmal, von Dezember 2020 bis Mai 2021, hat Terzic die Mannschaft unaufdringlich und authentisch zum Erfolg gecoacht – und seinen Spielern bis hin zum grandiosen Pokalsieg gegen Leipzig (4:1) besonders in den großen Begegnungen eine famose Partitur geschrieben.
Niemand erliegt der Versuchung, den BVB gleich in den siebten Himmel zu singen. Gute Laune schießt nun einmal keine Tore. Aber mit Terzic als Sympathie- und Hoffnungsträger und mit einigen durch den neuen Sportdirektor Sebastian Kehl schlau eingefädelten Transfers wächst die Zuversicht auf eine erfolgreiche neue Saison. Diese Borussia soll nach allgemeiner Einschätzung keine Seifenblase sein, die leicht zerplatzt. Die Hoffnung auf ein positives Abschneiden besteht – hat aber einen Dämpfer erlitten. Weniger wegen der beiden Niederlagen in den Vorbereitungsspielen gegen Valencia (1:3) und Villareal (0:2), so etwas passiert eben, sondern weil bei Sébastien Haller am 18. Juli ein Hoden-Tumor diagnostiziert wurde. Diese Nachricht stellte die Dortmunder Gefühlswelt beim Trainingslager in Bad Ragaz/Schweiz auf den Kopf. „Wir sind alle im Schockzustand“, stöhnte der Vorsitzende der BVB-Geschäftsführung, Hans-Joachim Watzke.
Ein Portrait wie dieses muss deshalb zumindest streifen, dass der Job für Borussia Dortmunds Trainer gleich zu Beginn seiner Tätigkeit ohne den als Schlüsselspieler vorgesehenen Angreifer komplizierter und herausfordernder geworden ist. „So professionell wie möglich“, fordert Terzic, soll der BVB mit der Hiobsbotschaft von Hallers Ausfall umgehen und zur Normalität zurückkehren. Sein Rezept: zusammenrücken und wieder aufstehen. Im Idealfall aus dem Rückschlag sogar Stärke ziehen.
In seiner ersten ausführlichen Medienrunde als Chef spürt man nur wenige Stunden nach dem ärztlichen Bulletin, wie nahe ihm die Erkrankung des Stürmers geht. Jetzt über Pressing oder Passspiel zu referieren, Entwicklungsziele und Zukunftsaussichten aufzuzeigen, sei „brutal schwer“, sagt Terzic im Trainingslager im schweizerischen Bad Ragaz. Dass der Fußball ungeachtet aller Einzelschicksale kein Innehalten duldet, lässt ihn auf dem schmalen Grat zwischen persönlicher Betroffenheit und den Anforderungen an ihn als Anführer der Gruppe wandeln, Leistung und Ergebnisse abzuliefern.
Schon einen Tag, nachdem sich Spieler und Staff zu einer viel beachteten Solidaritätsaktion für ihren Kollegen versammelt haben, stehen zwei intensive Trainingseinheiten auf dem Plan. Weder der anstehende Parforceritt durch einen besonders eng gesteckten Terminplan noch die Vielzahl der noch auf dem Lehrplan stehenden Themen verzeihen eine Pause. Einerseits müssen sich die Dortmunder Spieler ungeachtet von Hallers Schicksal seriös mit dem Fußball beschäftigen – andererseits dürfen sie „gedanklich trotzdem bei Sébastien sein“.
Nach dem famosen Pokalsieg 2021 und dem fulminanten Saisonfinish mit wettbewerbsübergreifend neun Siegen in Serie (29:8 Tore) war es vor einem Jahr eine Weile still geworden um den anschließend zum Technischen Direktor ernannten Terzic. Nur einmal bei einer Podiumsdiskussion in seiner Geburtsstadt Menden äußert er sich vor einem größeren Publikum. Es ist ein Heimspiel für ihn, weniger als einen Kilometer vom Veranstaltungsort entfernt kam er am 30. Oktober 1982 zur Welt. Bei der Talkshow punktet Terzic mit Kompetenz, Humor und Schlagfertigkeit; ihm fliegen auch die Herzen jener Zuhörer zu, die es nicht mit dem BVB halten. Irgendwann erzählt er bei diesem Anlass davon, dass fast jedes seiner früheren Interviews mit der Frage endete, ob er mal in Dortmund Cheftrainer werden möchte.
Was für eine Frage. Natürlich wollte er das.
Zehn Monate später verrät Terzic, dass er nach Ende seiner vom Pokalsieg gekrönten Interimstätigkeit selbstredend die Lust verspürt habe, „das noch einmal zu machen“. Dass es so schnell geht, damit habe er nicht gerechnet. Während des einen Jahres als Technischer Direktor habe er sich darauf eingestellt, „eines Tages wieder Trainer zu werden“; dass es a) Borussia Dortmund und b) schon im Sommer 2022 wird, „war dann nicht so klar“. Angebote, die ihm zwischenzeitlich ins Haus flattern, Angebote, wegen denen andere Kollegen schwach geworden wären, lehnt er ab.
Jetzt steht er wieder am Ruder. Das Vertrauen der Bosse und die Zuneigung der Anhänger umschmeicheln ihn wie ein warmer Rückenwind. „Sein Weg ist die ungewöhnliche Aufsteigergeschichte eines Fans. „Wann“, fragen die Zeitungen der Funke-Mediengruppe, „wann wurde einem Trainer in Dortmund zuletzt so viel Liebe entgegengebracht?“ Diese Liebe erklärt sich aus der Vita des frisch ernannten Cheftrainers; sein Lebenslauf und die tiefe Verbundenheit mit seiner Borussia sichern ihm hohe Popularitätswerte.
Schon als Kind entflammte Terzic für seinen Lieblingsverein. Später arbeitete er im Scouting der Borussia und sammelte im Nachwuchsbereich erste Meriten. Slaven Bilic, der mit Platz drei bei der Weltmeisterschaft 1998 seinen größten Erfolg als Nationalspieler Kroatiens feierte, warb ihn ab und lotste ihn als seinen „Beifahrer“ erst zu Besiktas Istanbul und dann zu West Ham United. Als Co-Trainer von Lucien Favre kehrte Terzic 2018 zur Borussia zurück – und reanimierte nach dessen Entlassung eine „halbtote Mannschaft“ (Watzke). Die Saison als Technischer Direktor und den damit einhergehenden Perspektiv-Wechsel nutzte er auch zur Selbstreflektion und Weiterbildung.
Fußballspiele ohne Ton
Seinen Horizont zu erweitern, zu lernen und nie mit dem bereits erreichten Wissensstand zufrieden zu sein, kennzeichnet diesen Fachmann. Terzic filtert in fußball-spezifischen Fragen wie auch bei Mannschafts- und Menschenführung wertvolle Aspekte aus Erlebtem, aus Gesehenem und auch: aus Gehörtem. Über seinen Sport und seinen Beruf nachzudenken, ist bei ihm ein fortwärender und fließender Prozess. Fußballspiele zu Hause sieht er ohne Ton, ganz allein in seinem Zimmer, um zu hundert Prozent fokussiert zu sein. Dabei sammelt er Ideen und schreibt sie nieder. Erst neulich schaute er sich einen spanischen Clasico aus der Saison 2004/05 an und zeigte sich fasziniert davon, in welchem Tempo Real Madrid und FC Barcelona ihr Passspiel gestalteten. „Daraus kann man so viel ziehen“, schwärmt er.
Derlei Erkenntnisse und der stattliche eigene Erfahrungsschatz münden in eine Philosophie, deren Kernmerkmal es sein soll, Dominanz auszuüben. Die dafür nötigen Mittel wählt Terzic situativ – und bedient sich abhängig von Gegner und eigener Mannschaftsbesetzung bei den unterschiedlichsten Stilformen. Ballbesitz, hohes Pressing, Umschaltaktionen, Tempo, Aggressivität: Hauptsache offensiv und attraktiv soll der Fußball unter seiner Regie sein. „Edin hat eine klare Idee, wie er spielen möchte“, sagt Sebastian Kehl, „und er hat eine klare Vorstellung, wie er mit den Spielern umgehen möchte.“
Wertvolle Inspirationen gewinnt Terzic auch aus Dokumentationen, die in anderen Sportarten produziert wurden. Was machen die Trainer im American Football, im Eishockey oder im Handball anders? Welche Hinweise liefert das für die eigene Arbeit? „Das herauszufinden“, sagt Terzic, „macht mir unfassbar viel Spaß.“ Zu den schon immer in Stein gemeißelten Geboten seiner Arbeit gehört, dass Fußball ein „Spieler-Spiel“ ist. Soll heißen: Das Potenzial der Akteure auf dem Platz prägt und bestimmt Terzics Konzeption. „Natürlich habe ich eine Grundidee, wie ich mir Fußball vorstelle, aber im Endeffekt wird sie stark davon beeinflusst, welche Qualität ich in der Kabine vorfinde.“
Die sechs Monate unter seiner Stabführung von Dezember 2020 bis Mai 2021 lieferten bereits einen Vorgeschmack auf Borussia Dortmunds Fußball der Zukunft. Matthias Sammer, der die erste Terzic-Schaffensperiode mit Röntgenblick von der Tribüne aus überwachte, hebt explizit die „hohe Dynamik gegen den Ball und eine gewisse Kompaktheit“ hervor. Der BVB-Berater weiter: „Angriffsschemen und das Spiel mit dem Ball waren immer mehr zu erkennen.“
Als sich Borussia Dortmund und Marco Rose im Mai zur Trennung entschließen, gilt Terzic als logische Wahl für den Job. Er kennt den Verein aus dem Effeff. Matthias Sammer benötigt in einem kicker-Interview nur einen einzigen Satz, um zu erklären, warum kein Weg an Terzic vorbeiführte: „Im gesamten Auftreten, mit seiner Idee vom Fußball setzt er das um, was der Klub sich vorstellt.“ Terzic sei ein „sehr fähiger Impulsgeber“ und habe einen „ganz feinen, verlässlichen und sauberen Charakter.“ Aus dem Mund des externen Beraters Sammer kommt das einem Ritterschlag gleich. Obwohl Fallhöhe und Erwartungen groß sind, greift Terzic zu und unterschreibt für drei Jahre.
Schon in den ersten Trainingstagen wird deutlich, welche Leitplanken Terzic setzt. Die neue sportliche Identität soll aus dem Zusammenspiel aller Kräfte entstehen. Das Wir gewinnt. Das soll gleichermaßen für Trainerteam und Spielerkader wie auch für die inhaltliche Ausrichtung der Mannschaft gelten: „Wir wollen gemeinsam attackieren, wenn der Gegner den Ball hat – und gemeinsam ein Tor erzielen, wenn wir den Ball haben.“ Alle Stärken auf den Platz bringen und alle Schwächen nach Möglichkeit verstecken, so lautet sein Plan. Gebetsmühlenartig spricht er davon, diesen Plan gemeinsam und gemeinschaftlich umzusetzen. Spieler mit einem übergroßen Ego werden es bei ihm schwer haben: „Wir als Mannschaft sind dafür verantwortlich, Gegentore zu verhindern und die Bälle nicht so leicht wegzugeben.“ Den Spielern schreibt er in ihr Pflichtenheftchen, „das eigene Tor mit allem zu verteidigen, was wir bieten können“. Im Test gegen Valencia missfällt ihm die Vielzahl verlorener 50:50-Situationen, in denen die Spanier „einen Schritt schneller und aggressiver“ waren.
Terzic hat „mega Bock“ auf die Aufgabe, in Dortmund eine Leistungskultur zu installieren, die den auf die Dauer ermüdenden Diskussionen über Einstellung, Haltung und Kontinuität ein Ende setzt. In jedem Gespräch mit einem potenziellen Zugang klopft Terzic ab, „wie weit dieses Thema in der Persönlichkeit jedes einzelnen Spielers wichtig ist“. Mentalität auf Knopfdruck anzumachen – damit hat er ein Problem. Von seinen Profis verlangt er, dass sie Siegeswillen an jedem Tag, in jeder Trainingseinheit, zeigen, um dann im Ernstkampf „jedes Mal Vollgas“ geben zu können. Freifahrtscheine und Versprechungen auf feste Einsatzzeiten werde es bei ihm nicht geben. „Das einzige Versprechen, das ich jedem Spieler gebe: Man kann sich in der Mannschaft alles erarbeiten.“
In der Verantwortung
Als überzeugter Teamworker nimmt er seinen Stab bei der Führung der Gruppe ebenso mit in die Verantwortung wie seine Führungsspieler. „Die Erfahrenen, die in ihrer Karriere viel erlebt haben – mir ist es wichtig, ihre Meinung zu gewissen Themen zu bekommen“, sagt er, „deshalb binde ich sie sehr häufig mit ein.“ Führungsspieler definiert Terzic aber nicht ausschließlich über ihre Lebensjahre oder die Zahl ihrer Einsätze, sondern auch über ihr Auftreten in der Gruppe. So bescheinigt er Jude Bellingham, der Borussia Dortmunds Fußball seit 2020 enorm bereichert, „definitiv Führungsqualitäten“ und befördert ihn konsequent zum dritten Kapitän – obwohl der Engländer erst 19 Jahre alt ist.
Dass Sportdirektor Kehl im BVB-Kader kräftig durchgelüftet hat, ließ Experten wie Jürgen Kohler oder Lothar Matthäus umgehend ins Schwärmen geraten. Sie stempelten den BVB zum Titelfavoriten (Kohler) oder zum ernsthaftesten aller Herausforderer (Matthäus). Anders als die Weltmeister von 1990 gab sich Terzic nie als Freund davon zu erkennen, schon vor einer Saison bunte Luftballons aufsteigen zu lassen. Erst will er sich inhaltlich an drängende Themen wie die zerbrechliche Defensive (wettbewerbsübergreifend 74 Gegentore in 46 Pflichtspielen der vergangenen Saison) und fehlende Stabilität (15 Niederlagen) herantasten, „bevor wir über irgendwas sprechen, was im Mai 2023 vergeben wird“. Zunächst soll „guter, konstanter Fußball“ auf seiner Agenda stehen, „wir wollen die Leute glücklich machen. Nicht nur einmal, sondern regelmäßig.“
Neben fachlicher Expertise und einer besonderen kommunikativen Begabung wird die hohe Identifikation Terzics mit dem Verein – und das ausgeprägte Gespür für die Seele des Klubs – besonders wertgeschätzt in Dortmund. Die Verantwortung, „diese Mannschaft besser machen zu können“, betrachtet der Coach tatsächlich als Herzensangelegenheit. Seine besondere soziale Kompetenz erweist sich dabei gewiss nicht als Nachteil: Als er am ersten Diensttag in neuer Funktion einen Blick in sein Inneres gewähren und die Besonderheit dieses Moments ausleuchten soll, lenkt Terzic die Aufmerksamkeit lieber auf Mateu Morey, der nach mehr als einjähriger Verletzungspause für sein Comeback schuftet. „Wir sind total glücklich, dass er gemeinsam mit uns auf dem Platz stehen durfte“, sagt Terzic, „er ist endlich wieder da, wo er hingehört.“
Sich weniger wichtig zu nehmen und stattdessen Spieler ins Rampenlicht zu schieben, die gerade nicht auf der Sonnenseite des Fußballerlebens stehen, charakterisiert Terzics empathisches Auftreten. Schon nach dem Pokalfinale 2021 waren es nicht herausragende Akteure wie Marco Reus oder Erling Haaland, denen er ein Sonderlob spendierte (obwohl sie es ganz sicher verdient hätten), sondern Roman Bürki. Der Torhüter hatte unter Terzics Ägide seinen Stammplatz verloren, sprang aber dann im Finale ein, weil sich der zur Nummer 1 beförderte Marwin Hitz einen Kapselriss im Knie zugezogen hatte. Bürkis loyales Verhalten in einer für ihn persönlich schwierigen Karrierephase und seine solide Endspielleistung hob Terzic deshalb ausdrücklich hervor. Zu seinen Grundsätzen gehört es ohnehin, die Spieler zu schützen; sie der Öffentlichkeit zum Fraß vorzuwerfen, käme ihm wie Verrat an seinen eigenen Prinzipien vor. Kritik überlässt er den Medien. Was er zu monieren hat, adressiert er nicht über Reporter-Mikrofone an seine Profis, sondern direkt. In der Trainerkabine, im Besprechungsraum, eben dort, wo die Wände keine Ohren haben.
Zum Trainingsauftakt am 29. Juni befehligt Terzic nur eine kleine Gruppe von Profis (Mats Hummels, Marius Wolf, Youssoufa Moukoko, Nico Schulz, Donyell Malen, Mateu Morey und der neue Torhüter Alexander Meyer). Die Nationalspieler befinden sich noch im Urlaub. Im Brackeler Jugendstadion leitet Assistent Peter Hermann das Übungsprogramm. Nur ab und an schaltet sich Terzic ein, und dass er sich dann ausgerechnet mit einer gelben „Quietsche-Entchen“-Pfeife Gehör verschafft, liefert Bild mangels Nachrichtenwert dieser Einheit eine hübsche Geschichte für den kommenden Tag.
Dass die bevorstehende Saison wegen vieler Englischer Wochen und wegen der WM-Unterbrechung „eine sehr große Herausforderung“ darstellt, erwähnt Terzic häufiger in dieser Vorbereitungsperiode. „Die Zeit rennt, die Zeit ist knapp“, sagt er, nur 18 Tage hat er seinen Kader vor dem Pokalauftakt bei 1860 München nahezu komplett beieinander. Wie recht er mit seiner Einschätzung hat, dass es dauern wird, „bis wir da sind, wo wir am Ende stehen wollen“, dokumentiert der Verlauf der Vorbereitung.
Vormals verletzten Profis gesteht Terzic ausdrücklich zu, dass bei ihnen nichts übers Knie gebrochen werden soll. Damit ziehen Trainer und sein Team unmittelbare Konsequenzen aus dem viel diskutierten Fehlzeiten-Festival der vergangenen Saison. Sich im Fitnessbereich besser aufzustellen, gehört zu den Themen, „aus denen wir lernen wollen“, betont Terzic. Dafür öffnet sich Borussia Dortmund neuen Ideen, wie auch die Verpflichtung des US-Amerikaners Shad Forsythe zeigt, der nach seiner Zeit beim Deutschen Fußball-Bund (2004 bis 2014) acht Jahre auf der Gehaltsliste des FC Arsenal stand. Sebastian Kehl kündigte den Experten für Athletik und Fitness als „absolute Verstärkung“ an.
In Zukunft soll das Prinzip „Gründlichkeit vor Geschwindigkeit“ die Reha-Maßnahmen angeschlagener Spieler bestimmen. „Es geht nicht darum, so schnell wie möglich wiederzukommen“, unterstreicht Terzic, „sondern so lange wie möglich zu bleiben.“ Giovanni Reyna führt er nach dessen persönlicher Horror-Saison behutsam wieder an die Mannschaft heran: Reyna habe extrem viele Rückschläge verarbeiten müssen, „und jetzt“, sagt Terzic, „wollen wir nicht für den nächsten Rückschlag sorgen, sondern dafür, dass Gio wieder Vertrauen in sich und seinen Körper bekommt. Deshalb gehen wir kein Risiko ein.“ Auch Mateu Morey lernt nach fast 15 Monaten Pause die neue Vorsichts- und Sicherheits- Philosophie kennen, obwohl er „vor Energie und Euphorie sprüht“ (Terzic).
Nach ein paar knackigen Einheiten und den Tests in Lünen (3:1) und Dresden (2:0), die in erster Linie Vorspielcharakter besitzen und den Nachwuchskräften eine Bühne bieten sollen, beginnt am 10. Juli die zweite und heiße Phase der Vorbereitung. 1500 Fans strömen ins Jugendstadion in Brackel, um erstmals auch Niklas Süle, Nico Schlotterbeck, Karim Adeyemi, Haller und Salih Özcan zu bestaunen.
Höhere Intensität und Qualität
Terzic trägt ein langärmliges, graues Shirt, als er sich an der Stirnseite eines knapp 40 Meter großen Feldes postiert. Auf dem Lehrplan steht eine besonders anspruchsvolle Spielform: neun gegen neun mit drei freien Akteuren im ballführenden Team, gespielt wird auf acht (!) kleine Tore. Mit dem Einstieg der Nationalspieler ist die Intensität auf dem Platz und dadurch die Trainingsqualität deutlich gestiegen. „Ab sofort weht ein anderer Wind“, notieren die Ruhr Nachrichten. Terzic zieht die Zügel an, kurz und knapp, prägnant und energisch, schallen seine Kommandos über den Rasen: „Auseinander! Komm, komm! Weiter! Helfen!“ Harte Arbeit ist angesagt, Terzic weiß: Qualität lässt sich nicht durch Charme und kesse Sprüche herstellen. Und nachdem sich in der Saison 2021/22 genügend Indizien fanden, dass dem Dortmunder Team Konstanz und Reife einer absoluten Spitzenelf fehlen, benötigt Terzic keine Hinweise von Dritten, dass der Weg nach ganz oben über Schlaglöcher, Sperren und Umleitungen führt.
Jedes Training, jeder Test, kann helfen, sich dem Idealbild zumindest anzunähern. Nach dem Spiel bei Drittligist SC Verl ist es gar nicht einmal der standesgemäße 5:0-Sieg, der Terzic strahlen lässt, sondern der Lerneffekt, der den Lehrer und Pädagogen in ihm glücklich macht. Im Vorfeld hatte er seinem Team Wege aufgezeigt, wie man das intensive Pressing der zuvor gegen Schalke und Almelo zweimal beobachteten Verler umgehen und überspielen kann. An diese Regieanweisungen hält sich die Mannschaft über weite Strecken der Partie.
Eine Schlüsselrolle fällt dabei Mo Dahoud im zentralen Mittelfeld zu. Mit ihm spricht Terzic auffallend viel; nach Dahouds Auswechslung erfolgt eine spontane „Auf- und Nachbearbeitung“ an der Linie. In seinem abgekreideten Tätigkeitsbereich gibt sich der Trainer in Lünen, in Dresden, in Verl und in Altach als gefühlskontrollierter Mensch zu erkennen. Genauso wenig wie er am Spielfeldrand herumspringt wie Funken im Feuer, coacht er eine Partie knochentrocken runter – er kontrolliert seine Emotionen eben. Und so sehr er davon träumt, dass sich der BVB nahe am Optimum bewegt, verlangt er von seinen Akteuren keine maschinenhafte Präzision und Produktivität. Terzic wird nie vergessen, dass Fußballer auch und in erster Linie Menschen sind. Fehler zu machen, gesteht er ihnen zu. „Ein Problem habe ich nur damit, Fehler laufend zu wiederholen.“
Als Youssoufa Moukoko in Verl ein Doppelpack glückt, nimmt er ihn in den Arm und tätschelt ihm den Kopf. Hier empfindet Terzic wie ein Vater, der seinen Sohn wie von einer Last befreit sieht und in der Freude über das Erfolgserlebnis mit ihm fühlt. Dass der Trainer über einen guten Draht zu seinen Profis verfügt, mag, wie Kapitän Marco Reus vermutet, auch an der Jugendlichkeit des Fußballlehrers liegen: „Er ist ja noch nicht so alt. Von daher kann er ungefähr nachempfinden, wie wir uns auf dem Platz fühlen.“
Aus seiner exponierten Stellung als Cheftrainer lässt Terzic auch im Umgang mit den Fans keine künstliche Distanz entstehen. „Ich bin immer noch der Edin“, darauf legt er Wert. Bei öffentlichen Trainingseinheiten oder Testspielen rufen ihn die Zuschauer wie ein Familienmitglied oder wie einen langjährigen Freund beim Vornamen, damit er Trikots unterschreibt oder für Selfies posiert. Manchmal dauert es fast eine Stunde, bis Liebling Edin mit einer Engelsgeduld auch den letzten Wunsch erfüllt hat. Das zu tun, ist Ehrensache für ihn und keine lästige Pflicht.
Autor: Thomas Hennecke
Fotos: Alexandre Simoes
Der Text stammt aus dem Mitgliedermagazin BORUSSIA. BVB-Mitglieder erhalten die BORUSSIA in jedem Monat kostenlos. Hier geht es zum Mitgliedsantrag.