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BVB-Mission gegen das Vergessen

Mit viel Energie und einem bemerkenswerten Konzept versucht Fußball-Bundesligist Borussia Dortmund gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus vorzugehen.

25.08.2019

Mit viel Energie und einem bemerkenswerten Konzept versucht Fußball-Bundesligist Borussia Dortmund gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus vorzugehen.

Oswiecim – Der Fußball-Bundesligist Borussia Dortmund ist einer der Vereine in Deutschland, die von der rechten Szene gerne als Plattform missbraucht werden. Der Dortmunder Stadtteil Dorstfeld gilt als einer der größten Hotspots Deutschlands für Neonazis, die ihre Fühler auch auf die berühmte BVB-Südtribüne ausstrecken. Mit großer Energie und einem bemerkenswerten Konzept versucht der Verein seit 2013, diesen Tendenzen entgegen zu wirken. Unter anderem mit regelmäßigen Studienreisen für Fans ins ehemalige Konzentrationslager in Auschwitz.

Im Barackenblock 5, in dem die Schwarz-Weiß-Fotos von der berüchtigten Rampe gezeigt werden, kann Martina die Tränen nicht mehr zurückhalten. Es sind Aufnahmen, die den Schrecken der Selektion gnadenlos aufzeigen. Diejenigen Menschen, die auf den grobkörnigen Bildern nach links gehen müssen, werden wenig später vergast und verbrannt sein. Diejenigen, die von den SS-Männern in die andere Richtung geschickt werden, werden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet und unbeschreibliche Qualen erleiden. Um erst dann zu sterben.

Die 55-Jährige, deren kecke Lachfalten von einer sehr positiven Lebenseinstellung zeugen, weint jetzt in aller Öffentlichkeit. Auch um sie herum stehen Menschen, die mit ihrer Fassung ringen. “Man kann das in dem Moment nicht beeinflussen”, wird Martina ein wenig später sagen, die Augen gerötet. Es ist nicht nur ein singulärer Moment. Es sind viele und sehr besondere, die die Hiltruperin und ihre Reisegefährten in diesen Tagen in Auschwitz erleben. An dem Ort, wo zwischen 1940 und Januar 1945 bis zu 4000 Menschen täglich umgebracht worden sind. Unfassbare 1,1 Millionen insgesamt.

Lange Zeit schob der BVB die Probleme zur Seite

Es ist mittlerweile die neunte Fan-Reise nach Oswiecim, wie der Ort im Süden Polens in der Landessprache heißt, die Borussia Dortmund organisiert hat. Daniel Lörcher war nicht nur von Anfang an dabei. Der 33-Jährige ist einer der Impulsgeber dieses Projekts. 2011 kam er erstmals mit einigen Dortmunder Ultras nach Oswiecim, die Reise war selbst organisiert. “Da haben wir gemerkt, dass wir mit der Thematik so unvorbereitet nicht zurecht kommen”, sagt Lörcher.

Der Dortmunder war früher Vorsänger der größten Ultra-Gruppierung “The Unity” auf der Südtribüne. Einer jener jungen Männer, die tausenden Fans die Gesänge vorgeben und zu Choreografien animieren. Seit 2013 ist er in verschiedenen Funktionen, unter anderem als Fan-Beauftragter, beim BVB tätig. Seit kurzem steht Lörcher der Abteilung “Corporate Responsibility” im Klub vor. Wenn man mit ihm über die Bildungsarbeit des BVB spricht, ist seine Passion geradezu mit Händen zu greifen. Und man spürt, dass er von einer Mission getrieben wird. Ebenso wie der Historiker Andreas Kahrs, mit dem Lörcher seit 2011 in diesem Projekt zusammenarbeitet. Der BVB-Hauptsponsor Evonik steht dabei hinter dem BVB. So gibt es beispielsweise eine eigene Bildungsreise für Mitarbeiter von Evonik und dem BVB. Das Vorgänger-Unternehmen von Evonik, Degussa, war in die Verbrechen des Dritten Reiches verwickelt.

Die Borussia, die ihr Problem mit rechten Einflüssen innerhalb der Fanszene lange beiseite geschoben hat, hat sich mittlerweile klar positioniert. Und versucht seit fast zehn Jahren, mit entsprechender Bildungsarbeit gegenzusteuern. Die Fahrt nach Auschwitz kostet jeden Teilnehmer 50 Euro. Die restlichen Kosten für Flug, Unterkunft und Logis übernimmt der Verein. “Ohne dass wir dafür irgendwelche Zuschüsse beantragen”, sagt Lörcher.

“Die Wirkung nach innen ist bemerkenswert”

Es ist eine Mission, die ihre Wirkung bislang eher im Verborgenen entfaltet hat, als in der Öffentlichkeit. “Wir wollen in erster Linie die Fans erreichen”, sagt Lörcher, “die Wirkung nach innen ist bis dato bemerkenswert.” In diesem Jahr darf zum ersten Mal ein Journalist dabei sein, nach langer Überlegung der Verantwortlichen und nach Zustimmung der Gruppe.

Es ist eine anfänglich etwas mühsame Liaison, in der zunächst viel Misstrauen abgebaut werden muss. Weil viele Momente während dieser Fahrt voller Emotionen und Intimität sind. Gerade bei den jüngeren Teilnehmern, die ihr Fan-Sein mit großer Ernsthaftigkeit vorleben, ist die Skepsis groß, der Öffentlichkeit Zugang zu gewähren. Die Gruppe ist sehr heterogen: Junge und Ältere, Frauen und Männer, Fans von der Süd- und der Haupttribüne.

Zurück im Stammlager Auschwitz. Bei Marie sind es die Haare, die ihr den Boden unter den Füßen wegreißen. Eigentlich federleichte Haare. Nun sieht sie sieben Tonnen davon in einem meterlangen Schaukasten aus Glas in Block 5. Als Zeugnis einer widerwärtigen Menschenverachtung. Und als letzte sichtbare Erinnerung an unzählige Menschen. Sie überlegt kurz, wie viele qualvolle Tode sich hinter diesem unfassbaren Haufen aus Haaren verbergen. Doch sie scheitert schnell an der Absurdität dieser Rechnung. Tränen. Auch Alexandra ist überwältigt, sie sitzt nun draußen im Schatten einer Birke, gleich neben einem der Wachtürme und dem doppelten Stacheldrahtzaun. Sie schweigt minutenlang. Und sagt dann: “Man fühlt sich wie mit dem Hammer vor den Kopf geschlagen.”

BVB-Geschäftsführer Watzke war 2017 dabei

Hans-Joachim Watzke war 2017 hier in Auschwitz. Es gibt ein ziemlich großartiges Foto vom BVB-Geschäftsführer, das ihn von hinten vor einem aufgeschütteten Haufen von leeren Behältern von “Zyklon B” zeigt. Blechbüchsen, aufgeschnitten wie mit einem Dosenöffner. In denen das Gift lagerte, mit dem die Nazis in Auschwitz Jüdinnen und Juden umbrachten. Knapp zwanzig Minuten brauchte das eigentlich zur Schädlings-Bekämpfung produzierte Blausäure-Granulat, um die Menschen in den Gaskammern auf grausamste Weise verenden zu lassen. Sie erstickten innerlich.

Auf dem Foto sind die Gedanken von Watzke im Angesicht des Terrors nur zu erahnen, doch er scheint regelrecht erstarrt. Das Bild wird zu einem der prägenden in einem Buch über die bildungspolitische Arbeit des Klubs, das der BVB der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als Geschenk widmet. Und in dem Watzke zitiert wird: “Es erfüllt mich mit besonderem Stolz, dass es eine Faninitiative mit vielen Aktivitäten gegen Diskriminierung gibt, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus unterschiedlichsten Bereichen geschult wurden und werden und dass unsere Partner und Sponsoren gemeinsam mit uns an diesen Themen arbeiten.”

Es ist ein langer Satz. Seine Kernaussage: Der BVB steht ganz klar gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und jede Form der Diskriminierung.

Im Stammlager ist es geradezu surreal

Draußen im Stammlager Auschwitz ist es geradezu surreal. Die Sonne scheint, die Wiesen zwischen den 28 Lagergebäuden sind grün, Vögel zwitschern. Nichts scheint gerade zu diesem dunklen Ort zu passen. Bis Ewa Pasterka, die die Gruppe als Guide über das sechs Hektar große Gelände des Stammlagers führt, erzählt, dass der längste Straf-Appell hier 19 Stunden gedauert habe. Mitten im Hochsommer 1940. Bei Temperaturen von über 30 Grad wie heute. Mindestens ein Häftling starb.

Ewa, eine resolute ältere Dame, fragt die Teilnehmer, warum sie kein Polnisch sprechen können: “Wir sind doch Nachbarn!” Als jemand antwortet, dass die Sprache so schwer zu erlernen sei, kontert Ewa: “Deutsch ist auch nicht einfach. Zum Beispiel das Wort Reichssicherheitshauptamt.” Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) war die zentrale Behörde der SS. Im Referat IV B 4 des RSHA hatte der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann den bürokratischen Teil der “Endlösung der Judenfrage” organisiert.

Eine Woche in Oswiecim

Die Studienfahrt nach Oswiecim dauert eine Woche. Eine lange Zeit, in der die Teilnehmer immer wieder mit unvorstellbaren Grausamkeiten konfrontiert werden. Doch sie merken schnell, dass sie in der Gruppe aufgefangen werden mit ihren Ängsten und ihrer Traurigkeit. Eine sehr große Hilfe dabei sind auch Amelie Gorden, die in der selben Abteilung wie Lörcher arbeitet, und die Fan-Beauftragte Antje Boedecker, welche die Bildungsreise pädagogisch begleiten.

Neben den methodisch vorbereiteten Gruppensituationen ist es für sie eine Selbstverständlichkeit, auf die Bedürfnisse der Einzelnen sowie auf die der Gruppe einzugehen und gemeinsam mit Lörcher und Kahrs für alle Fragen und Wünsche zur Verfügung zu stehen. “Wir absolvieren hier eine Woche lang ein Programm von sehr hohem Niveau”, sagt Andreas Kahrs: “Man fährt hier nicht hin und hat eine Woche Spaß.

Auch wenn der Spaß mit dazu gehört und hilft, das alles zu verarbeiten”, so der 38-Jährige weiter. Der Historiker legt die Latte bewusst hoch: “Unsere Taktik lautet nicht: Mach es mal lieber nicht so kompliziert, das sind Fußballfans. Sondern das Gegenteil ist der Fall.” Es würden allerdings immer wieder Atempausen eingestreut. Zudem habe jeder die Möglichkeit zu sagen: Ich nehme mich mal raus. Neben den Besuchen der Lager in Auschwitz und des benachbarten Lagers Buna-Monowitz gehören eine ausführliche Vor- und Nachbereitung, Workshops und die Aufarbeitung des Gesehenen in der Gruppe zum Programm.

Einen Tag darauf geht es für die Gruppe nach Auschwitz-Birkenau. Dem berüchtigten Lager II, wo das wohl schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte verübt worden ist. Ein Ort, an dem die Todesmaschinerie der Nazis eine zynische Effizienz erreichte. Gegenüber der alten Rampe von Birkenau, wo zwei Transportwaggons eine kleine Gedenkstätte bilden, steht ein neues Einfamilienhaus. Die Besitzer haben im Garten ein ganzes Arsenal an fröhlicher Dekoration und Spielzeug aufgebaut. Die Windspiele und Brunnen-Attrappen wirken fast wie ein rebellisches Statement gegen den grauenhaften Ort auf der anderen Straßenseite, keine fünfzehn Meter entfernt. Eine Trutzburg des Kitsches, geradezu bizarr an dieser Stelle. Die BVB-Fans gedenken der Opfer an den Waggons, unter anderem schmücken sie diese mit einem Schal und Rosen. Und halten dann minutenlang inne. Beim Weggehen schaut Kay auf das Haus und stellt die Frage: “Wie kann man hier wohnen?”

“Wie kann man hier wohnen?”

Bei dieser Reise treffen erstmalig auch Hörende und Hörbehinderte aufeinander. Es ist eine weitere spannende Facette. Der Deaf-Fanclub (deaf ist das englische Wort für taub) des BVB hat über 150 Mitglieder, einige von ihnen sind nun in Oswiecim dabei. Damit die Inklusion schnell gelingt, werden sie von zwei Gebärdensprachdolmetscherinnen begleitet. Gleichzeitig lernen die Gruppenmitglieder täglich selbst einige Gebärden. Als Florian Hansing, der Vorsitzende des Deaf-Fanclubs, am dritten Tag die hörende Marie und die taube Susanne gemeinsam auf der Bank sitzen sieht, sagt der 28-Jährige, der gleichzeitig hauptamtlich als Sozialarbeiter im BVB-Projekt Dortmund e.V. arbeitet, mit einem Lächeln: “Sie sitzen ohne Dolmetscher da, damit ist das Ziel schon erreicht.” In den Workshops und Gesprächsrunden werden die Bande noch verstärkt. Die Hörbehinderten, die im Dortmunder Stadion einen eigenen Block mit 28 Plätzen haben, haben die Abgrenzungen hier in Auschwitz aufgebrochen und sind selbstverständlicher Teil der Gruppe.

Von der alten Rampe in Birkenau geht es zum Hauptlager, das die meisten allein durch seine schiere Größe überwältigt. “Es ist unvorstellbar. Man bekommt einen ganz anderen Eindruck”, sagt Christian, der in der Nähe von Offenbach lebt. Die meisten Besucher tummeln sich im markanten Eingangsbereich mit der langen Rampe entlang der Bahngleise. Viele von ihnen sind Touristen, die die 70 Kilometer von Krakau hinüber nach Birkenau gefahren sind. Man merkt, dass viele dieser Menschen sich nicht gut vorbereitet haben auf diesen Besuch. Ein junger Mann trägt ein T-Shirt mit einem Totenkopf-Motiv. Einige posieren für Selfies vor den Gleisen. Kopfschütteln in der Dortmunder Gruppe. Die BVB-Fans dringen so weit wie kaum ein anderer Besucher in das Lager vor, bis hin zu der Stelle, wo anfänglich in großen Gruben unzählige Leichen verbrannt worden waren, um die Spuren zu verwischen. Bis schließlich die Öfen der Firma “Topf und Söhne” aus Erfurt die grauenvolle Arbeit übernahmen.

Wie an jedem Abend treffen sich die Teilnehmer danach, um das Erlebte zu verarbeiten. Sie vertrauen sich der Gruppe an, lassen sich von ihr auffangen. Das gemeinsame Erlebnis bildet ein starkes Band zwischen den Teilnehmern, das bei vielen über den Zeitraum der Reise fortbestehen wird. Das haben die vorherigen Fahrten bewiesen. Gleichzeitig sind sie Multiplikatoren, die ihre Erlebnisse weitergeben. Daniel Lörcher sagt. “Hier treffen sich Leute, die im Stadion nicht unbedingt zusammenkommen, weil die einen auf der Süd stehen und die anderen auf der Haupttribüne sitzen. Es kommen hier auch unterschiedliche Fankulturen zusammen und lernen sich kennen. So entstehen sehr, sehr spannende Netzwerke von Leuten, die sich Gedanken machen – nicht nur über den Fußball.”

Autor: Jens Greinke, Westfälischer Anzeiger
Fotos: Anna-Lina Nikelowski

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